11
6.
Die Eroberung von Constantinopei im Jahre 1453.
Sßon. Roltcck.
Herling: Lehrbuch der Stilistik. Hannover 1837. Ii, 81.
Lins dem ehrwürdigen, doch morschen Throne Constantü/s
des Großen saß, nach langer Folge und blutigem Wechsel der Ge-
schlechter, Constantin Xi. Aus daß dieser Thron, den so viele un-
bedeutende, elende, abscheuliche Imperatoren entehrt hatten, doch
noch mit Ruhm falle, dazu schien das Schicksal den männlichen
Constantin ausbehalten zu haben. Daß der dürre Stamm, der in
den Stürmen der Jahrhunderte bereits seine Krone und seine
stolzen Äste verloren hatte, nicht mehr zu verjüngen sei, das fühlte
er wohl; aber ihm lag ob, so lange, als möglich, das tödtende Beil
vom Stamme selbst abzuhalten. 'Unsere Zeiten/ so hatte des
Kaisers Vater, der weise Manuel, oft geklagt, 'vertragen die Größe
und den Rilhm der Helden nicht; uns ist nur die Sorgfalt des
bekümmerten Hansvaters übrig, der die letzten Trümmer seines
ehemaligen Glücks ängstlich hütet/ — Getreu dieser Lehre, so viele
Selbstverleugnung sie auch dem hochherzigen Constantin kostete,
hatte er von Anbeginn seines Reiches dessen letzte Provinz an
seine berrschsüchtigen Brüder überlassen und sah sich auf den
nächsten Bezirk um Conftantinopel eingeschränkt, damit nicht im
Bürgerkriege des Volkes Blut verspritzt würde. Er hatte durch
eine feierliche Gesandtschaft bei Amurath, dem stolzen Sultan, um
Anerkennung geworben. Aber was ist ein Staat, in dem der
Keim bürgerlicher Zwietracht liegt? was ein Monarch, der von
der Anerkennung eines Mächtigern abhängt? Constantin verbarg
sich seine Lage nicht, und wie der erfahrne Schiffer einen Sturm
voraussieht, der seinem zerbrechlichen Fahrzeuge droht, so stand am
Tage der Thronbesteigung vor des Kaisers Seele der Untergang
seines Reichs. Daher blieb er still und düster, als das Volk von
Constantinvpel ihn jubelnd empfieng; und als sein treuer Phranza
von der Sendung nach Georgien zurückkehrte, um dessen schöne
Fürstin er für Constantin geworben hatte, rührten den Kaiser zwar
die vielstimmigen Glückwünsche seiner Bürger, aber er warf sich im
ersten zwanglosen Augenblicke an des Freundes Brust, um seinen
Kummer darin niederzulegen. 'Ich habe/ sprach er, 'als ich dich
nach Georgien sandte, dem Verlangen des Volkes nachgegeben, das
einen Thronerben wünscht; aber andere Sorgen, als die Bereitung
hochzeitlicher Feste, heischt das Schicksal von uns. Mir ahnet,
diese Mauern werden früher des Krieges Donner, als den bräut-
lichen Gesang vernehmen. Das Volk frohlockt in seinem Leichtsinn
darüber, daß Amurath, der Furchtbare, todt ist: wohl war er
furchtbar, doch gerecht und der Waffenthaten müde; aber der
junge Löwe, der nun aus seinem Throne sitzt, wird er träge auf
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Extrahierte Personennamen: Sßon Herling Constantin Constantin Manuel Constantin Constantin Constantin Constantinvpel Constantin
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tische Willkür; aber die glänzendste, nach seiner Schätzung die
rühmlichste, jedoch nach dem Ausspruche der Gerechtigkeit die ver-
abscheuungswürdigste, war der Umsturz des griechischeil Reichs.
Unter den Gesandten, die fern von Morgen um den Thron
Mohamed's glückwünschend sich drängten, waren jene von Con-
stantin die beflissensten gewesen. Zu allen sprach der Sultan das
Wort des Friedens und der Freundschaft; aber nur ans seinen
Lippen war das Wort, im Herzen brütete der Krieg. Der stolzeste
aller Menschen erniedrigte sich aus Herrschsucht zur verächtlichsten aller
Tücke. Daher, als er auf einem schnellen Kriegszuge einige auf-
rührerische Provinzen beruhigt hatte, entriß er, schnell die Larve
abnehmend, den sorglos schlummernden Griechen die schönsten
Ländereien, deren Besitz er ihnen kurz vorher auf das feierlichste
versichert hatte, und es ergieng der Befehl zur Erbauung eines
festen, drohenden Schlosses an der Meerenge im Angesichte von
Constantinopel. Damals schon beschloß Constantin mit echt rö-
mischem männlichen Sinne, das Schwert zu ziehen, weil er es
lieber früher, aber mit Ruhm und Erfolg, als später, aber hoff-
nungslos ergreifen wollte; aber die Zaghaftigkeit der Menge und
der unpatrivtische Geist der Großen zwangen ihn, sein Heil in Unter-
handlungen zu suchen, in denen so wenig, als im Kriege, das
schwache Recht gegen die starke Raubgier etwas vermag.
Mohamed wollte Krieg, und so blieb auch dem Kaiser, wenn
er nicht etwa schändlich vom Throne herabsteigen und als frei-
williger Sclave die Gnade eines übermüthigen Herrn verehren
wollte, nichts anderes übrig. Er bewilligte jenen Bau, und die
Türken zerstörten ringsum Paläste und Tempel, um Mauersteine
zu erhalten; sie tödteten einige kühne Vertheidiger der Altäre und
mordeten grausam die Mannschaft eines Schiffes, das sich ge-
weigert hatte, dem Schloßhauptmann einen widerrechtlich geforderten
Zoll zu entrichten. Constantin trauerte und schwieg; aber da ließ
ein übermüthiger Bassa seine und seines Gefolges Pferde im reifen
Korn um Constantinopel weiden. Zürnend ob dem Raub und
empört durch den Hohn, erschlugen die Landleute einige Frevler,
und Mohamed, als wäre er selbst der Beleidigte, sandte seine mord-
lustigen Scharen, die das unglückliche Dorf in Asche legten
und weit umher die schuldlosen Schnitter würgten. Jetzt wurden
die Thore Constantinopel's geschlossen, die Straßen füllten sich mit
bestürzten Volkshaufen, und der Feigste sah ein, daß nur die Ent-
scheidung des Schwertes übrig sei. — Es giebt auf der ganzen
Welt keinen größern und erhabneren Anblick, als ein Volk, das
beim Hereinbrechen der äußersten Gefahr sich ermannt und zur
Rettung des Kostbarsten und Heiligsten, zur Vertheidigung seines
Daseins und seiner Ehre, mit der Entschlossenheit der Verzweiflung
die Waffen ergreift. Hier hört aller Unterschied des Geschlechts,
des Alters und des Standes auf. Hnnderttausende sind wie von
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Extrahierte Personennamen: Constantin Mohamed Constantin Bassa Mohamed
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unbezwinglich war den einfachen Maschinen der früheren Belage-
rung, das mußte den neu ersonnenen Werkzeugen der Zerstörung
unterliegen.
Gegen die vereinte und immer sich erneuende Macht des so-
genannten türkischen Reichs, gegen die wüthenden, unablässigen
Angriffe eines unabsehbaren Heeres und einer mächtigen Flotte sah
sich Constantin, ohne Hoffnung eines Beistandes, aus die Hülfs-
quellen seines eigenen Geistes beschränkt und auf den Arm von
nicht zehntausend Streitern. Die Mächte Europas waren gleich-
gültig bei seiner Noth geblieben. Furcht hielt die eine, die andere
Verblendung, gehässige Leidenschaft oder kurzsichtiger Eigennutz
von der dringenden Hülfe ab. Zwar noch stand es bei dem Kaiser,
durch Unterwerfung sein Leben und vielleicht durch die Gnade des
Siegers selbst Wohlleben zu erkaufen; aber er, der erste unter den
Römern an Rang und Geist, achtete es seiner uiib des römischen
Namens würdiger, der Nachwelt ein großes Beispiel von Helden-
sinn zu hinterlassen. <Weil aber weder das Vorhalten deiner frü-
heren Eide, noch meine äußerste Nachgiebigkeit dich entwaffnen
kann,' antwortete der christliche Fürst auf des Sultans übermüthige
Aufforderung, ffo beharre in deinem verbrecherischen Beginnen.
Wenn der Herr die Stadt in deine Hände liefert, so werde ich in
seinen heiligen Willen ohne Murren mich fügen; aber so lange
Gott nicht zwischen uns entschieden hat, ist es meine Pflicht, zu
streiten für Reich unfc Ehre.' — Schon zweiundsunfzig schreckliche
Tage waren über die Bürger von Constantinopel hingegangen.'
In den Donner des Geschützes mischte sich das Jammern der Angst
und des Schreckens; durch die Stille der Nacht tönte das Ächzen
der Verwundeten, das Wehklagen der Verwaisten. Was hals es
den tapfern Streitern, daß ihr Schwert der Türken Scharen fraß?
Die Lücken füllten sich bald aufs neue, und der glänzendste Er-
folg ward zu theuer durch ihr kostbares Herzblut erkauft. So
schwand allmählich die Hoffnung, und Mohamed, da er die Türme
durch sein Geschütz zertrümmert, die Mauern zerbrochen sah, erließ
den Befehl zum allgemeinen Sturme. In der Nacht sollten die
Zubereitungen geschehen. Die Christen sahen weithin an beiden
Gestaden unzählige Wachtfeuer lodern und das Meer von vielen
Leuchten heranrudernder Schiffe glänzen, ein großes, prachtvolles,
aber schreckliches, Unglück weissagendes Schauspiel. Dazu der
dumpfe Ton der sich bewegenden und drängenden Heerscharen, das
tausendfache Klirren der Waffen, und bald, mit dem ersten Morgen-
strahl, der laute Donner des Geschützes, das Geprassel hundertfältiger
Zerstörnngswerkzeuge und das hunderttausendstimmige Schlachtge-
wühl blutdürstiger Krieger. — Nicht unvorbereitet waren die Grie-
chen: der wachsame Constantin hatte des Feindes Bewegung er-
späht. Er rief in der Mitternachtsstunde seine Verwandten, seine
Freunde und die Edelsten, der Nation auf die Burg, um seine
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Extrahierte Personennamen: Constantin Mohamed Constantin
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eigene Todesverachtung durch Feuerworte in ihre Seele zu hauchen.
Er beschwor sie bei Nom's heiligem Namen und bei den Erinne-
rungen, die ihn umschwebten; er mahnte sie, das Urtheil der Welt
und Nachwelt zu scheuen, zeigte ihnen, daß dieses die Stunde sei,
die über ihr und der Ihrigen Leben, Freiheit und Glück, über des
Reiches Fortdauer oder Zerstörung unwiderruflich entscheiden müsse,
und was Religion, Pflicht und Ehre von ihnen als Christen,
Brüdern und Männern heische. Sie umarmten sich, weinten,
schwuren, zu sterben fürs Vaterland, und jeder gierig an seinen
Posten mit dem Entschlüsse, des römischen Namens würdig zu
bleiben; aber der Kaiser, in dessen Gemüth die Hoffnung erloschen
war, die er bei seinen Freunden zu entzünden gesucht hatte, begab
sich in den Sophientempel, um das heilige Abendmahl zu empfangen,
und von da flog er auf den äußersten Wall, um unter seinen
Bürgern bis zum letzten Augenblick die Pflichten des Feldherrn
und des gemeinen Kriegers zu erfüllen und dann zu sterben.
Schon hatte der ungleiche Kampf begonnen, schon war der
Tod umhergegangen unter tausend Gestalten. Land und Meer
rötheten sich vom Blut. Doch was kümmerte dies den Sultan?
Er hatte Streiter genug, um mit ihren Leichen die tiefen Gräben
Constantinopel's auszufüllen und dann erst über sie hin den Weg
zum Siege zu betreten. Noch waren, nach zweistündigem Gemetzel,
die Griechen von keinem Punkte gewichen; aber ihr Arm fieng an,
vom Schlachten müde zu werden, und jetzt führte Mohamed den
Kern seiner Truppen, die schrecklichen Janitscharen, frisch in den
Sturm. In diesem verhängnisvollen Augenblicke wurde der tapfere
und kriegskundige Justiani, Befehlshaber der kleinen abendländischen
Hülfsschar und vom Kaiser zum Oberanführer des ganzen Heeres
erhoben, von einem Pfeile verwundet. Gewohnt, dem Tode zu
trotzen, konnte er doch dem Schmerz seiner Wunde nicht widerstehen;
er floh gegen die Stadt, um sich verbinden zu lassen. Da rief der
Kaiser, dessen Blicke überall waren, ihm zu: 'Freund, deine Wunde
ist leicht, die Gefahr dringend. Du bist hier nothwendig, uni> wohin
willst du fliehen?' — 'Hierdurch will ich mich retten, wo Gott
selbst den siegreichen Türken den Weg gebahnt hat!' sprach der
von Schmerz überwältigte Mann und drängte sich durch einen
Riß der Mauer in die Stadt. Viele „seiner Landsleute folgten
ihm, und Constantinopel war verloren. Übermannt, zurückgedrängt
von den Außenwerken, flohen die Griechen gegen die innere
Mauer. Schon vernahmen die zitternden Bürger das siegreiche
Allah, und ach, schon war Constantinopel nicht mehr. Nur, wo
der Kaiser stand, war noch ein Kampf gewesen. Die Edelsten und
Besten seines Reichs drängten sich um ihn. Er bat sie, ihn zu
tobten, daß er nicht lebend in der Ungläubigen Hände falle, und
warf den Purpur weg, um unerkannt unter seinen Mitstreitern
zu fallen. Alle starben hier den männlichen Tod; aber kein Feind
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rühmte sich, den Kaiser getödtet zu haben: sein Körper lag unter
seinen erschlagenen Gefährten, und ringsum türmte sich ein Hügel
von feindlichen Leichen. Soll ich die Schreckniffe schildern, die
jetzt folgten? das Angstgeschrei der Fliehenden, die Streiche der
erbarmungslosen Wuth, die Blässe des Entsetzens, den tausend-
stimmigen Jammer der Verzweiflung? Die Häuser standen verlassen;
wehrlos zitternd, wie verscheuchte Schafe, drängten sich die un-
glücklichen Bewohner in den Straßen und Plätzen, oder füllten
die Tempel, um an den heiligen Altären eine Freistätte zu suchen;
umsonst! alles schwamm in Blut, und was dem Mordschwerte
entgieng, wurde der Naubsucht Opfer. Sich selbst nur die Ge-
bäude vorbehaltend, hatte Mohamed die Schätze Constantinopel's
sammt ihren Eigenthümern seinen stürmenden Soldaten geschenkt,
und sie eilten, dieses frevlerische Geschenk zu gebrauchen. Alle Kost-
barkeiten der Stadt, die Meisterwerke griechischer Kunst und Pracht
wanderten, viele zertrümmert, nach dem türkischen Lager, und bald
kehrten die Räuber zurück, sich der Geplünderten selbst neben ihrer
Habe zu versichern. Ohne Rücksicht des Standes und des Alters,
ohne Schonung der heiligsten Baude der Natur und des Herzens,
so wie der Zufall, das Recht der erstell Ergreifung, oder das
Machtwort eines Stärkern sie austheilte, sahen die unglücklichen
Griechen sich voll gefühllosen Tyrannen in die Sklaverei geschleppt.
Man band sie zusammen wie verächtliche Thiere. Das edle Mäd-
chen mit dem Manne des Pöbels, der Patrizier mit dem niedrigsten
Knechte, die Nonne mit dem Galeerensclaven zusammengekoppelt,
fühlten der nämlichen Geisel Hiebe. Der Geliebte wurde getrennt
von der weinenden Braut, der Freund vom Freunde; des alten
Vaters Armen entwand man den Sohn, und die Mutter, die
ängstlich nach der geliebten Tochter blickte, sah sie, von sich weg-
gerissen, in einen fernen unbekannten Kerker ziehen. Vielen gab
die Verwirrung Hoffnung zur Flucht. Ganze Scharen knieten aus
dem Strande und beschworen die wegrlldernden Schisser, sie in
ihre Barken aufzunehmen. Unerbittlich blieben die einen; andere,
die ihre Fahrzeuge mit Flüchtlingen überluden, versanken auf hohem
Meere. Manche flohen gegen die Gebirge; aber wen der nach-
folgende Feind ereilte, der blutete unter seinen Streichen. Die
Glücklichsten irrten viele Tage in Wildnissen umher. Senatoren,
Reiche aller Klassen, dem Schoße der Bequemlichkeit, der Fülle des
Lebensgenusses entrissen, lernten zum erstenmal des Hungers ver-
zehrende Qualen kennen und trugen, stöhnend unter der Bürde
weniger geretteter Habseligkeiten, die wunden Füße durch Dickicht
und Dornen.
Noch füllte Mord, Raub und jede Gewaltthat die unglückliche
Stadt. Da betrat Mohamed im Triumphgepränge die bluttriefenden
Straßen, und ein Herold verkündigte Gnade dem elenden Überreste
des Griechenvolks. Mit einer eisernen Keule bewaffnet, ritt er
Colshorn u. Goedeke's Lrsebuch Iii. 2
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T43: [König Held Sohn Mann Schwert Ritter Hand Tod Vater Feind]]
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sah. Nie war er gewaltiger gewesen, der furchtbare Mann, der
seine Überzeugung im hitzigsten innern Streit dem Zweifel und
Teufel abgerungen hatte.
Ganz anders erscheint seine Persönlichkeit im Streit mit ir-
dischen Feinden. Hier bewährt er fast immer sichere Überlegenheit,
am meisten in seinen literarischen Fehden.
Riesengroß war seine schriftstellerische Thätigkeit, welche er
von 1517 entwickelte. Bis zu diesem Jahr hatte er wenig drucken
lassen; von da wurde er auf einmal nicht nur der fruchtbarste,
auch der größte populäre Schriftsteller der Deutschen. Die Energie
seines Stils,, die Kraft seiner Beweisführung, Feuer und Leiden-
schaft seiner Überzeugung wirkten hinreißend. So hatte noch keiner
zum Volke gesprochen. Jeder Stimmung, allen Tonarten fügte
sich seine Sprache: bald knapp und gedrungen und scharf wie
Stahl, bald in reichlicher Breite ein mächtiger Strom drangen die
Worte ins Volk; ein bildlicher Ausdruck, ein schlagender Vergleich
machte das Schwerste verständlich. Es war eine wundervolle
schöpferische Kraft. Mit souveräner Leichtigkeit gebrauchte er die
Sprache, sobald er die Feder ergriff, arbeitete sein Geist mit höchster
Freiheit; man sieht seinen Sätzen die heitere Wärme an, die ihn
erfüllte, der volle Zauber eines herzlichen Schaffens ist über sie
ausgegossen. Und solche Gewalt ist nicht am wenigsten sichtbar in
den Angriffen, die er einzelnen Gegnern gönnt. Und engver-
bunden ist sie mit einer Unart, die schon seinen bewundernden Zeit-
genossen Bedenken verursachte. Er liebte es auch mit seinen Geg-
nern zu spielen; seine Phantasie umkleidet ihm die Gestalt des
Feindes mit einer grotesken Maske, und dies Phantasiebild neckt,
höhnt und stößt er mit Redewendungen, die nicht gemäßigt und nicht
immer anständig klingen. Aber grade in seinem Schmähen wirkt
die gute Laune in der Regel versöhnend, freilich nicht auf die Be-
troffenen. Fast nie ist kleine Gehässigkeit sichtbar, nicht selten die
unverwüstliche Gutherzigkeit. Zuweilen geräth er freilick in einen
wahren Künstlereifer; dann vergißt er die Würde des Reformators
und zwickt wie ein deutsches Bauernkind, ja wie ein boshafter
Kobold. Wie hat er alle seine Gegner gezaust! Bald durch Keu-
lenschläge, die ein zorniger Riese führt, bald mit der Peitsche eines
Narren. Gern verzog er ihre Namen ins Lächerliche, so lebten sie
im Wittenberger Kreise als Thiere, als Thoren. Eck wurde vr.
Geck, Murner erhielt Katerkopf und Krallen, Emser, der sein
Wappen, das Haupt einer gehörnten Ziege, jeder Streitsckrift Vor-
drucken ließ, wurde als Bock mishandelt, dem abtrünnigen Hu-
manisten Cockläus wurde sein lateinischer Name zurückübersetzt, und
Luther begrüßte ihn als Schnecke mit undurchdringlichem Harnisch.
Sah ihn später solcher Erguß übermüthigen Eifers aus der Druck-
schrift an, und klagten die Freunde: dann ärgerte er sich wohl
selbst über seine Rauheit, er schalt sich und bereute aufrichtig, aber
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33
war es doch zugleich ein prophetisches Almen naher Zukunft. Nicht
das Weltende bereitete sich vor, aber der dreißigjährige Krieg.
So starb er. Als der Wagen mit seiner Leiche durch die
thüringischen Lande fuhr, läuteten alle Glocken in Dorf und Stadt,
und die Leute drängten sich schluchzend an seinen Sarg. Es war
ein guter Theil der deutschen Volkskrast, der mit diesem einen
Manne eingesargt wurde. Und Philipp Melanchthon sprach in
der Schloßkirche zu Wittenberg vor seiner Leiche: <Ein jeder, der
ihn recht erkannt, muß dieses zeugen, daß er sehr ein gütiger Mann
gewesen, mit allen Reden holdselig, freundlich und lieblich, und
gar nicht frech, stürmisch, eigensinnig oder zänkisch. Und war doch
daneben ein Ernst imb eine Tapferkeit in seinen Worten und Ge-
berden, wie in einem solchen Mann sein soll. Sein Herz war
treu und ohne Falsch. Die Härte, so er wider die Feinde der
Lehre in Schriften gebrauchte, kam nicht ans zänkischem und bos-
haftem Gemüth, sondern ans großem Ernst und Eifer zu der Wahr-
heit. Er hat einen sehr großen Muth und Mannheit erzeigt und
sich nicht bald ein kleines Rauschen erschrecken lassen. Nicht ist er
durch Dräuen, Gefahr und Schrecknis verzagt worden. Er ist
auch von so hohem scharfen Verstand gewesen, daß er allein, vor
andern, in verwirrten, dunkeln und schweren Händeln bald ersehen
konnte, was zu rathen und zu thun war. — Wir aber sollen ein
stetig, ewig Gedächtnis dieses unsers lieben Vaters behalten und
ihn ans unserm Herzen nicht lassen.'
So war Luther. Eine dämonische Natur, schwerflüssig und
scharf begrenzt sein Geist, gewaltig und maßvoll sein Wollen, rein
seine Sittlichkeit, voll Liebe sein Herz. Weil sich außer ihm keine
andere Manneskraft erhob, stark genug, Führer der Nation zu
werden, hat das deutsche Volk für Jahrhunderte die Herrschaft
auf der Erde verloren. Die Herrschaft der Deutschen im Reich
des Geistes aber ruht aus ihm.
11.
Johannes Laut.
S3on Schwab. .
Gedichte 4. Aufl. Stuttgart und Tübingen 4851. S. 287.
kategorischen Jmperativus fand,
Das weiß ein jedes Kind, Immanuel Kant.
Dem kategorischen Jmperativus treu,
Zwang durch ihn wilde Seelen zu frommer Scheu
Lang' vor Immanuel Herr Johannes Kant,
Und wenige wiffen's, wie die Sache bewandt.
Derselb' ein Doctor Theologiä war
In schwarzer Kapuze, mit langem Bart und Haar,
So saß er zu Krakau auf dem Lehrersitz,
Cvlshorn u. Goedeke's Lesebuch Iii.
3
TM Hauptwörter (50): [T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland]]
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Extrahierte Personennamen: Philipp_Melanchthon Philipp Ernst Ernst Muth Luther Johannes_Laut Immanuel_Kant Johannes_Kant
36
12.
Du sollst nicht lügen.
Don Kant.
Werke, herausg. von Hartenstein. Leipzig 1838 u. 39 V, 469. (Gekürzt.)
Ein französischer Philosoph läßt sich folgendermaßen vernebmen:
<Der sittliche Grundsatz, es sei eine Pflicht, die Wahrheit zu sagen,
würde, wenn man ihn unbedingt und vereinzelt nähme, jede Ge-
sellschaft zur Unmöglichkeit machen. Den Beweis davon haben
wir in deil sehr unmittelbaren Folgerungen, die ein deutscher Phi-
losoph aus diesem Grundsätze gezogen hat, der so weit geht, zu
behaupten, daß die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob
unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus ge-
flüchtet, ein Verbrechen sein würde.' Der französische Philosoph
faßt sodann seinen Versuch einer Widerlegung in die Worte zu-
sammen! <Kein Mensch hat Recht auf eine Wahrheit, die anderen
schadet.'
Daß ich linter dem ^deutschen Philosophen' gemeint sei, hat
der Frailzose selbst an Gramer gesagt; und daß Obiges wirklich
an irgelld einer Stelle, deren ich mich aber jetzt nicht mehr be-
sinnen kann, von mir gesagt worden, gestehe ich hiedurch, füge
auch gleich hiilzu, daß ich jenen Grundsatz mit allen seinen Folge-
rungen allfrecht halte. Denn abgeseheil davoil, daß der Ausdruck:
‘an Recht auf die Wahrheit haben,' ein Wort ohne Sinn ist, so
ist auch der ganze Inhalt des gegilerischen Satzes durchaus irrig.
Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann,
ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder
einem andern daralls auch noch so großer Nachtheil erwachseilz
und ob ich zwar dem, welcher mich lingerechterweise zur Aussage
nöthigt, nicht Unrecht thue, wenn ich sie verfälsche, so thue ich
doch durch eine Verfälschung, die darum allch, obzwar nicht im
Sinn des Juristen, Lüge genannt werden kann, im wesentlichsten
Stücke der Pflicht überhaupt Unrecht, d. i. ich mache, so viel
an mir ist, daß Aussagen (Declarationen) überhaupt keinen Glauben
stnden, mithill auch alle Rechte, die aus Verträge gegründet werden,
wegfallen und ihre Kraft einbüßen, welches ein Unrecht ist, das
der Menschheit überhaupt zugefügt wird.
Die Lüge also, bloß als vorsätzlich unwahre Declaration
gegeil ei,len anderil Menschei, definiert, bedarf nicht des Zusatzes,
daß sie einem anderen schaden müsse, wie die Juristen es zu ihrer
Definition verlailgen. Denn sie schadet jederzeit einem anderen,
wenngleich nicht einem ailderen Menschen, doch der Menschheit
überhaupt, indem sie die Rechtsglielle unbrauchbar macht.
Diese gutmüthige Lüge kann aber auch dlwch einen Zufall
strafbar werden, nach bürgerlichen Gesetzen, beim vor den göttlichen
ist sie es; was aber bloß dlirch deil Zufall der Straffälligkeit
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TM Hauptwörter (200): [T33: [Gott Liebe Mensch Herz Leben Volk Ehre Vaterland gute Zeit], T173: [Sprache Wort Name Schrift Zeit Buch Form Kunst Art Werk], T175: [Mensch Leben Natur Körper Seele Tier Thiere Arbeit Erde Pflanze], T62: [Gericht Recht Gesetz Richter Jahr Volksversammlung Senat Plebejer Beamter König], T183: [Kind Lehrer Schüler Unterricht Schule Frage Stoff Aufgabe Zeit Geschichte]]
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entgeht, kann auch nach äußeren Gesetzen als Unrecht abgeurtheilt
werden. Hast du nämlich einen eben jetzt mit Mordsucht Um-
gehenden durch eine Lüge an der That verhindert, so bist du
für alle Folgen, die daraus entspringen möchten, aus rechtliche
Art verantwortlich. Bist du aber strenge bei der Wahrheit ge-
blieben, so kann dir die öffentliche Gerechtigkeit nichts anhaben,
die nnvorhergesehene Folge mag sein, welche sie wolle. Es ist doch
möglich, daß, nachdem du dem Mörder auf die Frage, ob der von
ihm Angefeindete zu Hause sei, ehrlicherweise mit Ja geantwortet
hast, dieser doch unbemerkt ausgegangen ist, und so dem Mörder
nicht in den Wurf gekommen, die That also nicht geschehen wäre:
hast du aber gelogen und gesagt, er sei nicht zu Hause, und er ist
auch wirklich, obzwar dir unbewußt, ausgegangen, wo denn der
Mörder ihm im Weggehen begegnete und seine That an ihm ver-
übte; so kannst du mit Recht als Urheber des Todes desselben an-
geklagt werden. Denn bättest du die Wahrheit, so gut du sie
wußtest, gesagt; so wäre vielleicht der Mörder über dem Nachsuchen
seines Feindes im Hause von herbeigelaufenen Nachbarn ergriffen
und die That verhindert worden. Wer also lügt, so gutmüthig
er auch dabei gesinnt sein mag, muß die Folgen davon, selbst vor
dem bürgerlichen Gerichtshöfe, verantworten und dafür büßen,
so unvorhergesehen sie auch immer sein mögen, weil Wahrhaftigkeit
eine Pflicht ist, die als die Basis aller aus Vertrag zu gründenden
Pflichten angesehen werden muß, deren Gesetz, wenn man ihr auch
nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz
gemacht wird.
Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes,
durch keinen Unterschied zwischen Personen einzu-
schränkendes Veruunstgebot, in allen Erklärungen
wahrhaft (ehrlich) zu sein, und der deutsche Philosoph' wird
daher den obigen Satz des ffranzösischen Philosophen' nicht zu
seinem Grundsätze annehmen.
Eine Frage. V, 263.
Muß ich, wenn ich in wirklichen Geschäften, wo es aufs Mein
und Dein ankommt, eine Unwahrheit sage, auch alle die Folgen
verantworten, die daraus entspringen möchten? Z. B. ein Haus-
herr hat befohlen, daß, wenn ein gewisser Mensch nach ihm fragen
würde, der Dienstbote ihn verleugnen solle. Der Dienstbote thut
dieses, veranlaßt aber dadurch, daß jener entwischt und ein großes
Verbrechen ausübt, welches sonst durch die gegen ihn ausgeschickte
Wache wäre verhindert worden. Auf wen fällt hier die Schuld?
Allerdings auch mit auf den Dienstboten, welcher hier eine Pflicht
gegen sich selbst durch eine Lüge verletzte, deren Folgen ihm nun
durch sein eigenes Gewissen zugerechnet werden.
TM Hauptwörter (50): [T10: [Volk König Mann Leben Zeit Land Mensch Krieg Feind Vaterland], T37: [Gott Mensch Herr Herz Leben Wort Welt Himmel Tag Hand], T45: [Zeit Mensch Leben Kunst Sprache Wissenschaft Natur Wort Geist Lehrer]]
TM Hauptwörter (100): [T17: [Gott Herr Mensch Wort Leben Herz Welt Hand Vater Himmel], T92: [Mensch Leben Natur Arbeit Zeit Ding Geist Welt Art Seele], T52: [Mensch Leben Volk Gott Geist Zeit Religion Mann Glaube Herz], T68: [Gericht Recht Richter König Strafe Gesetz Urteil Sache Person Verbrechen], T87: [Tag Tisch Haus Frau König Mann Gast Herr Hand Abend]]
TM Hauptwörter (200): [T177: [Volk Recht Gesetz Freiheit Land Strafe Mensch Gewalt Leben Staat], T136: [Leben Mensch Geist Natur Zeit Volk Welt Kunst Sinn Wesen], T59: [Tod Leben Volk Herz Freund Mann Wort König Tag Feind], T100: [Gott Herr Herz Wort Leben Hand Himmel Vater Kind Mensch]]
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Anmerkungen. V, 260 u. 262.
1. Jede Lüge, d. i. jedes Widerspiel der Wahrhaftigkeit, ist
eine Nichtswürdigkeit; sie ist die größte Verletzung der Pflicht des
Menschen gegen sich selbst, ja sie ist die Wegwerfung, gleichsam Ver-
nichtung seiner Menschenwürde, und Ehrlosigkeit, die jede Lüge be-
gleitet, die begleitet auch den Lügner, wie sein Schatten.
2. Es ist merkwürdig, daß die Bibel das erste Verbrechen, wo-
durch das Böse in die Welt gekommen ist, von der ersten Lüge
datiert lind als den Urheber alles Bösen den Lügner von An-
fang an und den Vater der Lügen nennt.
13.
Das Göttliche.
Von Goethe.
Werke. Stuttgart und Tübingen 1840. Ii, 67.
Edel sei der Mensch,
Hülfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.
Heil den unbekannten
Höhern Wesen,
Die wir ahnen!
Sein Beispiel lehr' uns
Jene glauben.
Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös' und Gute,
Und dem Verbrecher
Glänzen, wie dem Besten,
Der Mond und die Sterne.
Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen,
Vorüber eilend,
Einen um den andern.
Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.
Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.
Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche;
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.
Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.
Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Thäten im Großen,
Was der Beste im Kleinen
Thut oder möchte.
Der edle Mensch
Sei hülfreich und gut!
Unermüdet schaff' er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen!
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TM Hauptwörter (200): [T33: [Gott Liebe Mensch Herz Leben Volk Ehre Vaterland gute Zeit], T177: [Volk Recht Gesetz Freiheit Land Strafe Mensch Gewalt Leben Staat], T81: [Herz Himmel Gott Welt Lied Leben Auge Erde Land Nacht], T175: [Mensch Leben Natur Körper Seele Tier Thiere Arbeit Erde Pflanze], T179: [Gott Mensch Wort Welt Erde Glaube Herr Sünde Himmel Satz]]